»Startseite

 

DIE ZEIT/Literatur, Nr.15, 5.April 1974, S.2-3

Titel: "Walter Kempowski: Gespräch mit dem Autor"

© 1974 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

  

 

Die Schule und das Leben

Ein Interview mit Walter Kempowski

Von Dieter E. Zimmer

 

IN IHREM Schulbuch ["Immer so durchgemogelt"], da ganz besonders, stellen Sie dem menschlichen Gedächtnis ein verheerendes Zeugnis aus. Ich nehme an, daß dieses Ergebnis für Sie von vornherein klar war und daß alle Ihre Bücher Gegenmaßnahmen gegen diese ungeheure Vergeßlichkeit sind.

WALTER KEMPOWSKI: Das ist sicher wahr.

Sie haben etwa tausend Leute gefragt, was ihnen von ihrer Schulzeit im Gedächtnis geblieben ist. Was hätten Sie selber auf diese Frage geantwortet?

KEMPOWSKI: Das war 1937 in unserer Volksschule. Wir waren sechzig Jungens und hatten einen Lehrer, der nur in weißem Mantel unterrichtete und uns nie geschlagen und nie angebrüllt hat – ein phantastischer Mann. Ein Hospitant hat mich einmal während des Unterrichts photographiert, ohne daß ich es gemerkt habe. Ich finde, das sagt viel aus über den Lehrer.

Steht die Tatsache, daß Sie dieses Buch gemacht haben, in Verbindung damit, daß Sie selber Lehrer sind?

KEMPOWSKI: Ja. Ich bin seit fünfzehn Jahren Lehrer auf dem Land. Wenn man in die Klassen immer nur hineinschaufelt, dann will man einmal wissen: Was bleibt eigentlich? Und was ich selber schon festgestellt hatte, daß nämlich so gut wie nichts bleibt, wollte ich allgemein überprüfen. Dabei hat sich gezeigt, daß abgesehen vom Bildungsplankton, von Schreiben-Rechnen-Lesen, von den Kulturtechniken also, die ja allerdings wahrhaftig nicht gering zu veranschlagen sind, so gut wie kein konkretes Wissen übrigbleibt.

Das war auch mein Haupteindruck. Da wird ein ganzes Volk acht, zehn, dreizehn Jahre lang durch die Schulen gepreßt, und was davon schließlich in Erinnerung bleibt, sind ein paar kuriose Begleitumstände – ganze Lehrpläne reduzieren sich so etwa auf das Lispeln eines Lehrers. Ist also die Schule bloße Zeitverschwendung?

KEMPOWSKI: Ich habe durch das Buch gelernt, daß sich Erziehung sehr oft parallel zum Lehrplan ereignet. Als Lehrer muß man damit rechnen, daß das meiste verloren geht, was man den Schülern beibringt; aber nebenbei, in der Atmosphäre zum Beispiel – da bleibt doch etwas, vielleicht sogar Wesentliches, und wächst weiter.

Dann wäre die Festsetzung von Lernzielen ziemlich überflüssig.

KEMPOWSKI: Ich bin dafür, daß der Lehrer in die Klasse hineinhorcht, daß er den Kindern als Fragender gegenübersteht: Was brauchen sie jetzt? Was kann ich ihnen geben? Und das ist in den seltensten Fällen das, was im Lehrplan steht. Darauf muß er die Antworten geben, und er muß vor den Kindern einen Fächer von Möglichkeiten ausbreiten, er muß ein Mittler sein zwischen den Erwachsenen und der Kinderwelt.

Erziehung wäre also das, was sich unprogrammiert und fast zufällig neben dem eigentlichen Erziehungsprogramm ergibt?

KEMPOWSKI: Ja, das meine ich. Etwas anderes ist es mit den Lehr- und Lerntechniken. Da sollten die Lehrer viel mehr geschult werden. Von einigen alten Schulmeistern könnten sie eine Menge lernen; von Schul-Meistern. Unterrichtstechniken sollte man den jungen Lehrern beibringen, damit sie nicht so hilflos vor der Klasse stehen. Ein junger Lehrer kann eine Klasse für immer und ewig vermurksen. Keinem Arzt würde man einen solchen Kunstfehler verzeihen.

Es sind fast nur negative Erinnerungen in diesem Buch beisammen.

KEMPOWSKI: Normalerweise sagt man: Das Schlechte vergißt man, das Gute behält man. In der Schule ist es umgekehrt. So schlecht, wie es in der Erinnerung aussieht, kann die Schule gar nicht gewesen sein. Wahrscheinlich liegt das daran, daß die Schuleinflüsse in eine Phase fallen, die die Kinder ganz schutzlos trifft. Wenn sie neunzig sind, reden sie noch über die eine Ungerechtigkeit, die ihnen der Lehrer zugefügt hat.

Bei den Antworten schneidet relativ gut ab, was heute als besonders rückständig gilt. An die Zwergschule gibt es eine Reihe ganz achtungsvoller Erinnerungen, sogar an prügelnde Lehrer.

KEMPOWSKI: Das kann man so allgemein nicht sagen. Wahrscheinlich gibt es eine Phase, in der die Kinder eine feste Führung brauchen und es ihnen nicht guttut, wenn sie sich selber überlassen bleiben. Aber das müßte man von Fall zu Fall untersuchen. Die Prügelszenen können genausogut aus sexuellen Gründen angenehme Erinnerungen sein. Daß die Landschule, die Zwergschule gut wegkommt, würde ich auch so nicht sagen. Sie kommt sicher besser weg, als ihr polemisch verbumfeiter Name heute signalisiert. Ich finde es unerhört, daß man diese kleinen Schulen Zwergschulen nennt; dann könnte man die großen Schulen ja ebensogut Schulkolosse nennen.

Nach welchem Prinzip haben Sie die Antworten denn ausgewählt?

KEMPOWSKI: Ich habe zunächst ganz grob gefragt: Sie sind so und so lange zur Schule gegangen – an was erinnern Sie sich noch? Und dann habe ich nur die ersten zwei, drei Antworten genommen, weil ich vermutete, daß diese ganz obenauf liegenden Erinnerungen die wichtigsten wären. So entging ich auch der Gefahr der Konfabulation. Es ist wie bei der Traumdeutung: Wenn man zu lange fragt, richten sich die Antworten nach dem, was der Psychiater wissen will.

Sie haben fast nur Leute aus dem Mittelstand, fast nur Abiturienten befragt.

KEMPOWSKI: Ja. Das steht im Zusammenhang mit diesen "bürgerlichen Romanen", die ich geschrieben habe. Ich wollte mich nur auf die Bürgerschicht beschränken.

Glauben Sie, daß der Leser bei dieser großen Zahl von Kurzantworten noch das Typische herauspräparieren kann? Wäre es nicht ergiebiger, weniger Leute länger zu verhören?

KEMPOWSKI: Das hätte man machen können. Aber: Wer sollen denn die fünf Leute sein, die man ausführlich exploriert? Wie soll man sie aussuchen? Bei meinen Fragen sind mir so unterschiedliche Antworten begegnet, daß mir eine Beschränkung der Zahl sehr gewagt vorgekommen wäre. Ein solches Buch wäre sicher weniger repräsentativ.

In Ihren Büchern, in den Romanen wie in diesen Befragungsbüchern, sparen Sie jede persönliche Stellungnahme aus. Fällt Ihnen diese Enthaltsamkeit schwer?

KEMPOWSKI: Ich meine, ein Buch ist für den Leser interessanter, wenn er sich selber Gedanken machen kann. Hier berührt sich übrigens mein Schulmeisterdasein mit dem des Schriftstellers. Als Schulmeister soll man den Kindern auch nichts erklären, man soll sie die Lösung möglichst selbst finden lassen. Was man selber entdeckt, das haftet besser.

Aber sehen Sie nicht gerade bei diesem Buch die Gefahr, daß es ganz passiv eben als eine Sammlung von Schulanekdoten hingenommen wird?

KEMPOWSKI: Die Aufmachung des Buches könnte vielleicht dazu verleiten. Das wäre schade, aber verhindern kann man es nicht. Ich hoffe, man wird das Buch im Zusammenhang mit meinen Romanen als einen Abstecher, einen Streifzug, als ergänzende Materialsammlung verstehen.

In welchem Zusammenhang genau stehen diese Befragungsbücher mit Ihren Romanen?

KEMPOWSKI: In Tadellöser & Wolff und Uns geht's ja noch gold hätte ich die Schulstellen viel breiter ausmalen können und wollen; aber als genauer Kenner von Thomas Manns Buddenbrooks war es mir einfach zuwider, nach diesen unüberbietbar typischen Schulpassagen noch selber eine zu versuchen. Diesem Wettstreit habe ich mich nicht stellen wollen. Trotzdem wollte ich aber den Schulaspekt nicht ganz aufgeben. So habe ich die vielen Antworten, die ich im Laufe meiner Recherchen bekommen habe, gesondert versammelt.

Das heißt, daß man keines Ihrer Bücher als einzelnes sehen sollte?

KEMPOWSKI: Es gibt da ein Verbundsystem. Auch das Befragungsbuch Haben Sie Hitler gesehen? ist so ein Abstecher, den ich den Lesern meiner Romane anbiete, und es ist alles andere als eine Anekdotensammlung.

Wie sieht dieses Verbundsystem aus?

KEMPOWSKI: Das Hitler-Buch ist eine Ergänzung zu Tadellöser & Wolff, das Schulbuch eine Ergänzung zu Tadellöser und Uns geht's ja noch gold. Ich meine, zur Demokratie gehört auch, daß man die Mitmenschen fragt – nicht nur demoskopisch: soundsoviel Priester, soundsoviel Zahnärzte, sondern mitmenschlich, aus der Begegnung. Wie soll ich das erklären, "demokratisch"? Mir fällt immer wieder dieses Wort ein. Zur Demokratie gehört doch auch, daß man seinen Mitmenschen, das, was er denkt, was er erlebt hat, was er an Geschichtsbildern mit sich herumträgt, wichtig nimmt. Seine Erfahrungen zum Beispiel – ein Wort, das heute ganz unmodern ist; man hört viel von Projekten und Prognosen, das Wort Erfahrung ist fast anrüchig.

Also hier die autobiographischen Romane, dort die begleitenden Quellensammlungen?

KEMPOWSKI: Die Romane sind viel fiktiver, als man glaubt. Die eigene Familiengeschichte ist im Sinne einer Skizzierung des Wahrscheinlichen weitergedacht und ausdiskutiert. Ich sehe die flankierenden Bücher, also das Hitler-Buch und das Buch über die Schule, wie Ausleger an einem Boot. Im Augenblick schreibe ich Im Block neu, mein Buch über die Jahre im Zuchthaus Bautzen – und da nehme ich die Ausleger sogar mit in das Buch hinein. Zum erstenmal ergibt sich hier ein Dialog zwischen dem, was ich erlebt habe, und der kollektiven Erinnerung meiner Mitmenschen.

Hatten Sie dieses Verbundsystem schon fertig, als Sie mit dem Schreiben angefangen haben?

KEMPOWSKI: Nein. Es ändert sich auch heute noch immer wieder, wenn auch nicht wesentlich. Ich kann gar nicht sagen, wie lange ich schon Material sammle. Es ist im Gefängnis schon losgegangen; da wir dort nichts zu tun hatten, mein Bruder und ich, haben wir schon immer von "früher" geredet. Nicht für das Gefängnisbuch, aber für die anderen Bücher habe ich mindestens vierzehn, fünfzehn .Jahre lang gesammelt. Schon durch das notwendige Aufbewahren dieser Erinnerungspartikel hat es sich als praktisch erwiesen, eine gewisse Ordnung herzustellen, in den Karteikästen zum Beispiel. Aus diesem äußerlichen Organisationsproblem ist das Verbundsystem erwachsen, und kurioserweise gebiert es nun von sich aus neue Ideen – es ist wie beim Periodischen System der Elemente. Aus der Gesamtanlage dieses Vorhabens, hoffe ich, wird man dann auch den Kommentar ganz deutlich herauslesen.

Es bleibt also nicht bei der neutralen Neugier?

KEMPOWSKI: Mit Kommentaren bin ich vorsichtig. Jeder, der kommentiert, macht sich ja schuldig.

Schuldig inwiefern?

KEMPOWSKI: Wenn sich der Kommentar nun als falsch erweist?

Aber führt das nicht zur totalen Meinungsabstinenz?

KEMPOWSKI: Nein. Meinung und erzählender Kommentar sind zwei verschiedene Sachen. In meinen Romanen führe ich eine Art Puppentheater vor. Ich lasse die Menschen so agieren, daß der Leser dahin geführt wird, ihr Schicksal als das seine zu erkennen, sich mit ihnen zu identifizieren. Indem er an ihrem Schicksal Anteil nimmt, wird er das eigene überdenken. Bei allem, was ich schreibe, denke ich: Verstehen die mich auch? Gefährlich ist das schon, weil man die Leser ja verführt, nur die Oberfläche wahrzunehmen und alles, was dahintersteckt, zu übersehen. Aber: wie will man denn heute die ältere Generation noch einmal dazu bringen, über die Nazi-Zeit nachzudenken? Da muß man sich ja geradezu einschleichen.

Sie fragen mit Vorliebe ältere Leute?

KEMPOWSKI: Je älter, desto besser. Wenn einer jünger ist als dreißig, ist er für mich – jedenfalls in dieser Hinsicht -- uninteressant. Wenn einer jünger ist als fünfundzwanzig, frage ich schon gar nicht mehr. Was die sagen, ist meistens emotional aufgeladen, unverdaut und stimmt faktisch oft nicht. Von einem Vierundzwanzigjährigen etwas Gültiges über seine Eltern zu erfahren, ist fast unmöglich, das wäre auch zuviel verlangt. Wenn dagegen ein Achtzigjähriger über seine Erinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg berichtet, dann ist das schon etwas Besonderes. Von hundert Erfahrungsbildern hat er vielleicht nur noch drei behalten, und die sind äußerlich scheinbar ganz belanglos, aber sie sitzen genau im Zentrum und sind Träger einer höheren, fast symbolischen Wahrheit.

An Ihrer Schule hier steht ein Spruch: Reif werden und rein bleiben ist die höchste Lebenskunst, oder so ähnlich. Was halten Sie davon?

KEMPOWSKI: Ich kann damit überhaupt nichts anfangen. Was heißt schon rein? Wenn man dem nachgeht, was Schmutz bedeutet, kann man überhaupt kein Lehrer sein. Auch dieser Reifeprozeß ... Wenn man die Erstkläßler sieht, kommen sie einem schon so geprägt vor, daß man mit allem, was man tut, doch nur die wahre Natur dieser Kinder verfälscht. Wenn es einem Lehrer gelingt, in jedem Jahr wenigstens drei, vier Kinder nur zu erhalten, hat man schon viel geschafft. Man kann als Lehrer den Stolz haben, zu sagen: Ich tue den Kindern wenigstens nichts an.

Was, hoffen Sie, wird den Kindern von Ihrem Unterricht im Gedächtnis bleiben?

KEMPOWSKI: Wenn ich sehr viel Glück habe, gar nichts. Wenn ich eitel wäre, würde ich sagen: daß sie sich gern an mich erinnern. Lebenstüchtig werden sie durch mich allein bestimmt nicht. Das werden sie so oder so, was sie auch für Lehrer haben.

 

»Startseite