›Home

 

DIE ZEIT/Feuilleton, Nr.52, 21. Dezember 1990, S.53

Titel: «Wenn Humpty Dumpty zerbricht – Vorschläge zur Rettung ehemaliger DDR-Kultureinrichtungen»

© 1990 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

Humpty Dumptys Fall

Von Dieter E. Zimmer

 

 

ÜBER 21.000 KULTUREINRICHTUNGEN gab es in der weiland DDR, die zentral gelenkt und alimentiert wurden, vom prächtigen Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt bis zu den unscheinbaren Dependancen der Kreisbibliotheken in tiefster Provinz. Ende 1991 werden es sehr viel weniger sein. Alle hängen heute zwischen Sein und Nichtsein.

            Beispiel eins: die Musikschule in Potsdam, eine von über 200, an der jeweils etwa 450 Schüler, meist Kinder und Jugendliche, in sechsjährigem, meist individuellem Unterricht an einem Instrument ausgebildet wurden. Träger war der Bezirk, der nun im Land Brandenburg aufgeht. Im Oktober kam die Anweisung: "Abwickeln!" – der Behördenjargon für die geordnete Auflösung.

            Die Räume, in denen der Putz von den feuchten Wänden bröckelt, wurden der Schule gekündigt. Doch ein gellender Aufschrei scheint sie vorerst gerettet zu haben: Das Land will nun ein Drittel zusteuern, ein Drittel will die Schule selber aufbringen (bisher waren es nur zehn Prozent) – da will sich die Stadt Potsdam nicht lumpen lassen, für das dritte Drittel aufkommen und sie in ihre Regie nehmen. Ob die eigenen Einnahmen reichen werden, steht allerdings in den Sternen. Die Jahresgebühren wurden von maximal 200 auf 360 Mark angehoben – aber wenn immer mehr Potsdamer arbeitslos werden, wird Musikunterricht für ihre Kinder ein unbezahlbarer Luxus. Die 33 Lehrer (entlassen wurden bisher nur einige Honorarkräfte) unterrichten heute freiwillig doppelt so viele Schüler wie früher. "Aber wenn sie doch nur 'die Straße' vor sich haben, ist diese Motivation völlig dahin. Früher mußten wir uns immer mit dem Staat herumschlagen, der wünschte, daß wir nicht nach dem Talent, sondern nach der sozialen Herkunft gingen. Nach der Wende dachten wir, jetzt werde alles leichter. Und jetzt?"

            Beispiel zwei: In einem kleinbürgerlichen Mietshaus in Berlin­Adlershof ist die Wohnung erhalten, in der Anna Seghers von 1955 bis kurz vor ihrem Tod 1983 lebte. Fünf bescheidene Zimmer, solide, schlichte Holzmöbel, Kachelöfen, die Wände übervoll mit ihren 10.000 Büchern, so wie sie sie verließ – frequentiert von Literaturstudenten und Professoren, Schülern und Lehrern, vor der Wende auch von den vielen nach Anna Seghers benannten Brigaden.

            Der Leiter dieser Gedenkstätte, die ein Außenarchiv der Ostberliner Akademie der Künste ist, wurde vorzeitig in den Ruhestand geschickt, die Bibliothekarin und die Putzfrau entlassen. Übriggeblieben sind die Archivarin und die Sekretärin. An der ganzen Abteilung "Archive, Bibliotheken, Sammlungen" hat die Westberliner Akademie der Künste Interesse bekundet. Verständlicherweise, denn sie ist ihr größtes Kapital, will sich die Akademie­Ost nicht von ihr trennen, solange sie noch irgendeine Hoffnung auf ihr eigenes Überleben hat. Ob sie überleben kann, ist jedoch mehr als fraglich. Unmittelbare Gefahr, daß die Wohnung aufgelöst wird, besteht nicht. Gleichwohl ist die Zukunft höchst unsicher.

            Und nun sei das Fernglas umgedreht. Es geht also um Unfeines, ums Geld, und zwar das aus den Mitteln des Staates, ohne das es "Kultur" als öffentliche Unternehmung nicht geben kann.

            Die DDR hat pro Jahr 4,1 Milliarden Mark (Ost) für ihre kulturellen Einrichtungen ausgegeben. 2,8 Milliarden kamen aus dem zentralen Staatshaushalt, 1,2 von den Betrieben, 0,1 von den Massenorganisationen wie FDGB und FDJ. Für die Bundesrepublik gehen die Berechnungen stark auseinander. Eine mittlere, die der Kultusministerkonferenz, schätzt die Gesamtaufwendungen für 1988 auf 9,2 Milliarden (West). Das aber heißt: Die DDR hat sich die Kultur pro Kopf ihrer Bevölkerung 246 Mark kosten lassen, die alte Bundesrepublik aber nur 150 ihrer (allerdings wesentlich wertvolleren) Mark.

            Weiter. Den fünf neuen Bundesländern werden nach der jetzigen Planung 1991 45,3 Milliarden zur Verfügung stehen, davon nur 12,5 aus eigenen Steuereinnahmen, den Gemeinden höchstens 40. Zusammen macht das allenfalls 85 Milliarden, die die sogenannte öffentliche Hand in den fünf neuen Bundesländern 1991 ausgeben kann.

            Vorausgesetzt, diese handelnde Hand ist willens, trotz all den dramatischen anderen Problemen sich die Kultur ebensoviel (oder -wenig) kosten zu lassen wie die West­Länder, nämlich zwischen 0,9 (Nordrhein-Westfalen) und 2,3 Prozent (Westberlin), im Durchschnitt etwa 1,5 Prozent. Somit stünden in der ehemaligen DDR 1991 maximal insgesamt 1,3 Milliarden zur Verfügung.

            Das Bundesinnenministerium – künftige Historiographen des Übergangs werden Wolfgang Schäuble ein Denkmal dafür setzen, denn er hätte es nicht gemußt – hat darüber hinaus einen Feuerwehrfonds von 900 Millionen zusammengebracht, der vernünftigerweise nach dem Subsidiaritätsprinzip vergeben werden soll: Der Bund gibt Zuschüsse dann und nur dann, wenn die neuen Länder sich die betreffende Einrichtung auch selber etwas kosten lassen. (Man kann nur hoffen, daß jetzt nicht allzu viele Interessenvertreter den Anspruch erheben, bei der Vergabe dieser Mittel mitzuzerren; sonst erreichen sie die Institutionen, die sie retten helfen sollen, erst nach deren Ableben.)

            1,3 plus 0,9 macht 2,2: Wo vordem 4,1 Milliarden zur Verfügung standen, wird es 1991 allenfalls die Hälfte sein, und da Löhne und viele Preise gestiegen sind und weiter steigen, ist diese Hälfte schon jetzt keine mehr, sondern noch viel weniger.

            Man kann auch eine andere Rechnung aufmachen. Etwa die Hälfte der Mittel wird für Personalausgaben gebraucht. Angenommen, das Durchschnittseinkommen im öffentlichen Dienst der Ost-Länder wird einstweilen tatsachlich bei 1900 Mark im Monat gehalten: Dann könnten Länder und Gemeinden in der Ex­DDR mit ihren eigenen Mitteln auf dem Kultursektor gerade für 28.000 Angestellte aufkommen. Tätig sind hier aber doppelt so viele. Jeder zweite verlöre seinen Arbeitsplatz. Und wer es den "Propagandisten des SED­Staates" nicht anders gönnt, muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß die große Mehrzahl der Kulturberufe ideologiefern war und ist: Die politischen Überzeugungen eines Flötisten, Kameramanns oder Restaurators sind für seine Arbeit selbst ziemlich belanglos.

            Diese Zahlen sind bitter genug. Eine ungute Eigenheit der alten ostdeutschen Kulturpolitik kommt als große Last hinzu. Die DDR hat die Kultur zwar für ihre bescheidenen Verhältnisse recht opulent ausgestattet. Aber nach den bundesrepublikanischen Maßstäben, die nun gelten, gab es viel zu viele Personalstellen und viel zu wenig Investitionen und Sachmittel.

            Das war das Bild: viele Leute, über gilbendem Papier werkelnd in vergammelnden Büros unter undichten Dächern, die langsam über ihnen zusammenfielen. Gebäude und Geräte wurden "auf Verschleiß gefahren", und das mit vollem Erfolg, denn nun sind sie tatsächlich verschlissen, Museen, Kinos und Baudenkmäler am meisten, sogar nach der offiziellen Statistik zu fast siebzig Prozent. Im alten Kulturministerium wurde ausgerechnet, daß mindestens eine weitere Milliarde für Reparaturen nötig ist – nicht etwa für die Sanierung, die dann viele weitere Milliarden kosten wird, sondern nur für die allerdringendsten Reparaturen: die Dachrinne etwa, deren ewiges Tropfen gestoppt werden muß, damit die Instrumentensammlung nicht verrottet.

            Worauf wir im Augenblick wie in Trance zutaumeln, ist also absehbar: auf eine abrupte Schrumpfung, ein blutiges Gemetzel. Es werden sich die SOS­Rufe überschlagen, bis alle sich nur noch die Ohren zuhalten. Erst werden Tausende von Einrichtungen "das drohende Aus" melden und noch einmal nach einem Retter rufen, und schon sind sie "den Bach runter". Im SED­Staat zwar in zu großer Zahl durchgefüttert, aber eingesperrt und ideologisch kujoniert und in ihren Sachmitteln erbärmlich kurzgehalten, wird einem großen Teil, vielleicht der Mehrheit der Menschen in den Kulturberufen der große deutsche Vereinigungsakt übel bekommen (nicht nur ihnen natürlich): Das neue Deutschland beginnt damit, daß es ihnen ihre Entbehrlichkeit bescheinigt.

            "Die Großen werden schon laut genug schreien", sagt Udo Bartsch, in der De­Maizière­Zeit Staatssekretär, dessen Stab im ehemaligen Kulturministerium die zentral verwaltete Kultur in die Obhut der Länder und Gemeinden hinüberleiten sollte und bei dem mittlerweile "eine gewisse Verbitterung" überhandnimmt, "aber die Kleinen? In manchen Gegenden gibt es nichts als das Kulturhaus. Wenn nun auch dies dichtgemacht wird, bleibt dort nur die totale Ödnis."

            Daß ein Gemetzel unabwendbar ist, dürfte niemanden davon abhalten, sich etwas einfallen zu lassen, damit es wenigstens etwas glimpflicher abgeht. Personal muß abgebaut werden, manches ist überflüssig und darf auch verschwinden. Aber nötig wäre ein Moratorium, damit nicht erst hingerichtet und dann nachgedacht wird. Es müßte möglich sein, zu prüfen und zu sortieren, welche Einrichtungen überlebensfähig und überlebenswürdig sind. Es käme alles darauf an, dafür Zeit zu kaufen. Denn all the king's horses and all the king's men werden Humpty Dumpty später, in den hoffentlich einmal heranbrechenden besseren Zeiten, wenn uns alles so schrecklich leid tun wird, nicht wieder zusammensetzen, den Rundfunkchor, der aufgelöst, das Archiv, das versteigert wurde.

            Der Städtetag müßte einen Stab einrichten, der schleunigst weitere kommunale Partnerschaften organisiert und die Gemeinden der Ex­DDR in die höhere Mathematik der Kulturfinanzierung einweiht. Die alten Bundesländer dürften nicht immer nur eifersüchtig auf ihre Kulturhoheit pochen und im übrigen den Bund für die Kosten aufkommen lassen; sie müßten selber noch zu dem Feuerwehrfonds beitragen. Und die neuen Länder: So verständlich ihre föderalen, zentrifugalen Aspirationen auch sind, sie müßten sich ihres gemeinsamen Ursprungs bewußt bleiben und zusammen retten, was für alle von Bedeutung ist und die Kräfte eines einzelnen Landes übersteigt.

            Zum Beispiel ein Radioprogramm à la "DS­Kultur". Erst im Juni dieses Jahres innerhalb des Deutschlandsenders gegründet, nahm es große Teile des auch außerhalb der DDR renommierten Kulturprogramms "DDR II" in sich auf: ein werbefreies 24­Stunden­Programm, das heute von bloßen 140 Leuten ganz ohne freie Mitarbeiter gemacht wird (50 wurden bereits entlassen). Zusammen mit allen anderen zentralen Rundfunkprogrammen muß es bis Ende 1991 verschwinden – es sei denn, die neuen Landesrundfunkanstalten, von denen bisher weder Zahl noch Konfiguration absehbar sind, machten die Absichtserklärung der Länder wahr und trügen es gemeinsam weiter. Tun sie es nicht, so büßen die Künstler und Intellektuellen, die jetzt die alte DDR beerben, ihre letzte öffentliche Stimme ein.

            Alles dies steht im Optativ der Toren: Es müßte (aber es wird nicht). Hinterher sage dann aber niemand, er habe es nicht kommen sehen.

 

›Home