›Home

 

ZEIT/Feuilleton, Nr.19, 3.Mai 1991, S.53-54

© 1991 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

 

 

Stadt im Gegenwind

Ein Plädoyer für die Hauptstadt und den Regierungssitz Berlin

 

Von Dieter E. Zimmer

 

 

Die Berliner machen im Augenblick eine ganz neue Erfahrung. Die beidseits der Mauer gehätschelten Helden des Kalten Krieges: liebt man sie gar nicht? Ihre Stadt, deren westliche, aus sich heraus nicht lebensfähige zwei Drittel zum Schaufenster der Konsumgesellschaft hochgepäppelt wurden und deren östliches Drittel Hauptstädtchen eines dubiosen Ländchens spielen durfte: will man ihr nicht mehr wohl?

Ihre Emissäre, nach Bonn entsandt, um die aufziehende Katastrophe zu verhindern, bringen – möglichst nicht zu laut – die Kunde zurück, daß Berlin von dorther zur Zeit ein eisiger Wind entgegenwehe und die Bereitschaft, der Stadt zu Hilfe zu kommen, nachgerade dem absoluten Nullpunkt zustrebe.

Der kalte Wind, der Berlin im Augenblick entgegenbläst, kommt aus mehreren Richtungen.

Auch noch 44 Jahre, nachdem der Alliierte Kontrollrat dem Lande Preußen den offiziellen Totenschein ausstellte, besteht – erstens – die historische Abneigung vieler Nicht-Preußen gegen die einstige deutsche Hegemonialmacht munter fort. Zu Preußens mancherlei Stärken – es war schließlich einmal zeitweise die europäische Hochburg nicht nur der öffentlichen Ordentlichkeit, sondern auch der Toleranz – hatte jedenfalls nicht die gehört, sich bei den übrigen Deutschen und seinen sonstigen Nachbarn beliebt zu machen.

Zweitens drückt sich in der Abneigung gegen Berlin wohl die Abneigung gegen alles Zentrale überhaupt aus. Viele wollen im Grunde gar keine Hauptstadt und können sich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß dieses Land nun wieder eine haben soll; für die unerläßlichen zentralen Verwaltungsfunktionen ist ihnen eine ruhige Bürozone irgendwo in der Landschaft gerade recht.

West-Berlin mußte von der Bundesrepublik vier Jahrzehnte lang künstlich ernährt werden; Ost-Berlin vergammelte auf Kosten der übrigen DDR weniger gründlich als deren andere Städte. Ein chronischer Zuwendungsempfänger aber kann – drittens – nicht auch noch Zuneigung beanspruchen, um so weniger, wenn sie bisher großteils angestrengt geheuchelt werden mußte.

Ein Viertes schließlich: Die Zeiten zwar, in denen Berlin seinen Rang als Weltmetropole nicht großtuerisch im Munde führte, sondern schlicht und redlich eine der größten Städte der Welt war, ist lange passé. Um 1930 stand es mit seinen 4,2 Millionen Einwohnern hinter London, New York, Paris an vierter Stelle, wie ein stolzgeschwellter Lehrer uns einbleute. Was schiere Größe angeht, so sind die ersten Plätze heute von den Megapolen Mexico DF, New York, Sao Paolo, Kairo, Los Angeles besetzt. Das wiedervereinte Berlin mit seinen 3,3 Millionen ist wohl vorgerückt, aber nur auf einen bescheidenen Platz 39, zwischen Kanton und Guadalajara; selbst in Europa ist es nur noch siebtgrößte Stadt.[1] Trotzdem ist es das weitaus Großstädtischste, womit Deutschland aufzuwarten hat, und hat darum auch die großstädtischsten Probleme, vor allem die der Verslumung und der Gettobildungen – das „Kreuzberg“-Syndrom, das einem Oberammergauer wie dem amtierenden bayerischen Ministerpräsidenten natürlich einen Schauder über den Rücken jagen muß.

Groß sind derzeit Berlins Aussichten nicht, im Parlament eine Mehrheit für sich zu gewinnen. Den Teufel malt man nicht an die Wand, und so gehört es in Berlin zum Komment, nicht davon zu reden, was aus der Stadt wird, wenn die Abstimmung zu seinen Ungunsten ausgeht – sonst sähe es ja nachgerade aus, als wäre seine Kapitulation schon perfekt. Darum will ich hier ein wenig Projektionsvermögen walten lassen und ausmalen, was eine Entscheidung gegen Berlin für diese Stadt bedeuten wird, besonders auf dem Gebiet der Kultur. Vielleicht möchte sich der eine oder andere Entscheidungsträger doch noch die Frage vorlegen, ob er das wirklich will.

Angenommen also, es ist kein Kompromiß mehr gefunden, die Kampfabstimmung nicht vermieden worden. Der Bundestag hat eines schönen Junitags abgestimmt, die Würfel sind gefallen, die Kameras abgebaut: Regierungssitz bleibt Bonn. Herr Lueg hält dem Bundeskanzler das Mikro hin, und der versichert mit frommem Augenaufschlag, daß zwar sein Herz insgeheim für Berlin geschlagen habe, aber nun gelte es, die Ärmel hochzukrempeln, aufeinander zuzugehen und die Entscheidung der Volksvertreter zu respektieren. Und Berlin solle sich man nicht so grämen.

In der Folge wird der Stadt dann noch mancher Trost gespendet werden. Regierungsstadt Deutschlands, das wäre doch viel zu wenig gewesen für einen so herrlichen Ort, wird es heißen (es wurde ja schon ausgesprochen). Zu nicht weniger als einer Kapitale Europas sei es berufen – ohne daß die EG daran dächte, auch nur die geringste ihrer Behörden an die Spree zu verlegen (wo sie, geographisch gesehen, auch deplaziert wäre). Ach was, Kapitale Europas! Als Brückenstadt zwischen den Welten, zwischen West und Ost gehöre ihm eine noch glorreichere Zukunft. Mit derlei aufgeblasenen Ehrentiteln mußte sich Berlin jetzt jahrzehntelang zufriedengeben, und zuweilen wurde ihm davon ganz schwummerig in seinem eigentlich doch erfreulich nüchternen Kopf. Es ist heute schwer zu erkennen, ob und wie Europas östliche Staaten eines Tages dessen Gewichte so verschieben werden, daß auch Berlin natürliche neue Funktionen zuwüchsen. Sicher ist ihm einstweilen nur seine Rolle als erste Großstadt vor der Stufe eines gewaltigen Wohlstandswasserfalls, also als Aldi-Paradies und Kapitale internationalen Schiebertums.

Und natürlich wird man Berlin versichern: Hauptstadt, wenn auch nicht Regierungssitz, sei es gewesen und werde es selbstverständlich bleiben. Es wird um so vollmundiger tönen, als jeder weiß, daß es sich da um Betrug handelt.

Seit der Gründung der Bundesrepublik hat jede Regierung Weltkrisen in Kauf genommen, nur um zu demonstrieren, daß sie nichts lieber täte, als die Bundesrepublik von Berlin aus zu regieren. Immer hatten diese symbolischen Sitzungen in der einstigen Reichshauptstadt etwas Verlogenes. Es war ja nur zu offensichtlich, daß die alte Bundesrepublik partout nicht von Berlin aus regiert werden konnte, daß da ein Anspruch angemeldet wurde, der auf absehbare, vielleicht auf alle Zeit nicht die geringste Chance hatte – wie es jedermann schien, bis sich die DDR plötzlich zu allgemeiner Verblüffung in Qualm auflöste. Diese alte Verlogenheit würde ins Quadrat erhoben, wenn eine Entscheidung gegen Berlin jetzt klarmachte, daß der frühere, so oft feierlichst vorgetragene Herzenswunsch, ein vereintes Deutschland von Berlin aus zu regieren zu können, nur so lange Geltung hatte, wie er sich nicht zu erfüllen drohte, und somit niemals ernst gemeint war.

Natürlich ist Berlin seit Kriegsende in Wort und Tat, explizit wie implizit nicht nur der bloße Ehrentitel, sondern die politische Funktion der Hauptstadt zugesichert und sozusagen warmgehalten worden. Sie ihr jetzt vorzuenthalten, ist Wortbruch. Der Bundespräsident[2] hat das dankenswert klar gemacht: Er könne, hieß es in seinem Memorandum, nicht mit seiner Behörde allein nach Berlin ziehen, „um dort einer politisch-optischen Täuschung Vorschub zu leisten“. Das war die Wahrheit, auch wenn er so etwas streng genommen vielleicht nicht aussprechen durfte. (Er hat den Abgeordneten aber ja auch keineswegs ihre Stimme abgenommen. Er hat ihnen nur zugemutet, vor der Stimmabgabe noch einmal nachzudenken.) Berlin mit dem Hauptstadttitel abzuspeisen, wäre in der Tat nichts als eine optische Täuschung, nur möglich auf der Grundlage einer kolossalen historischen Vergeßlichkeit, die nichts Gutes für das wiedervereinigte Deutschland ahnen ließe.

Auch selbst wird Berlin sich Trost zusprechen (der Ton wurde ebenfalls bereits angegeben). Berlin habe Zeit, wird es heißen: Die Entscheidung für den Regierungsssitz Bonn werde in einigen Jahren dermaßen lächerlich wirken, daß die Bundesbehörden ganz von selbst dorthin driften werden, wohin sie gehören.

Es ist dies eine unsichere, wenn nicht trügerische Aussicht. Bonn als die billigere Lösung, Bonns Lage auf einem Westeuropa näheren Längengrad, Bonn als beschauliche Idylle, Bonn als Emblem deutscher Bescheidenheit – alle diese Gründe für Bonn, die jetzt zusammengesucht werden, um das Berlin gegebene Versprechen nicht einlösen zu müssen, sind nicht unbedingt vorgeschoben, aber sekundär. Im Grunde handelt es sich um einen Fall von schlichtem Beharrungsvermögen. Bonn ist nunmal Regierungssitz, und was ist, soll auch so bleiben, denn jede Veränderung bringt immer nur Unbequemlichkeiten mit sich. Das fehlte dem Ministerialrat gerade noch, daß er aus seinem Eigenheim in Rhöndorf nach Rixdorf umziehen muß! Wenn aber der Hauptgrund gegen Berlin der ist, daß sich die Regierung in dem erklärten Provisorium Bonn nun einmal festgesetzt hat, dann würde er erst recht gelten, sobald Bonn offiziell kein Provisorium mehr ist und sich die Regierung dort noch viel fester einzementiert. Je mehr Sack und Pack einer hat, desto weniger gern zieht er um.

Daß die Bonner später einmal doch nach Berlin kämen, wäre also von vornherein nichts als ein frommer Wunsch, einer allerdings mit verhängnisvollen Folgen für Berlin.

Berlin ist ja eine mehrfach verwüstete Stadt. Die Zerstörungen des Krieges, die 70 Prozent seiner Gebäude beschädigten oder ganz in Schutt legten, waren noch die ehrlichsten, gelenkt vom unparteiischen Zufall und verdient. Der Wiederaufbau tat der Stadt die schlimmere Verwüstung an.

Im Osten brachte eine vom Insektenstaat träumende sozialistische Kleinmannssucht von Lichtenberg über Hohenschönhausen und Marzahn bis Hellersdorf Schlafstädte in Großplattenbauweise hervor, Fabrikanlagen für das, was im dortigen Jargon „Reproduktion“ (der Arbeitskraft) hieß, die nun als trostlose Betoneinöden die Gegend verunzieren und zu verslumen drohen. Der Rest verfiel zu einem nahezu kompakten Sanierungsgebiet, abgesehen von ein paar dankens- und lobenswerten Restaurationsanstrengungen, die wenigstens einen Teil der Linden und in den letzten Jahren den Gendarmenmarkt retteten.

West-Berlin, zwar besser in Schuß, hat ebenfalls eine zweite Verwüstung über sich ergehen lassen müssen, auch wenn sie dem Ortsansässigen kaum noch auffällt. Man gehe nur immerhin die ganze Südflanke der Innenstadt entlang, vom Mehringplatz, wo die Friedrichstraße, die nun wieder Richtung Halle führen könnte, in einem heute doppelt absurden Sack endet, bis hinüber in die Kurfürstenstraße und die Potsdamer Straße, die einmal eine der großen Magistralen der Stadt war, und halte die Augen auf. Sie werden einem übergehen. Das Entscheidende ist nicht, daß man auf dem Weg zwar an einigen gelungenen Exemplaren moderner Architektur vorbeikommt, etwa Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie, aber auch an einigen ihrer tollen Scheußlichkeiten, etwa jenem „Saskatchewan“ genannten Punkthaus gegenüber dem ehemaligen Anhalter Bahnhof. Das Entscheidende ist die kopflose Flickschusterei des Ganzen. Altes, Neues, auf alt getrimmtes Neues, auf neu getrimmtes Altes, heilige Hallen neben den letzten Bruchbuden, Schuttplätze neben Wohnhäusern, ephemere Diskonthallen neben Kunsttempeln und zwischendurch immer wieder schlechterdings einfach gar nichts – eine Wüstenei auch hier, in der man nicht wissen kann, welcher Anblick einen an der nächsten Ecke erwartet und die in ihrem Durchschnitt nur einem einzigen Stilprinzip gehorcht, der Renditerechnung: Afaismus reinsten Wassers. Das kommt davon, wenn die Bauherren sich einen Kehricht darum scheren, wie aussieht, was mit ihrem Kapital gebaut wird, wenn der einzige Leitgedanke der ist, aus möglichst wenig Geld möglichst viele umbaute Kubikmeter herauszuholen. West-Berlin konnte auf diese von gutgemeinten Anreizen angelockten anonymen Investoren und Spekulanten nicht verzichten, sonst wäre der Wiederaufbau unterblieben; nun steht das Zeug zwar beleidigend, aber massiv da. So ist die zweite Verwüstung West-Berlins ein weiteres Ergebnis seiner Insellage.

Lange genug war Berlin eine spezifische Absurdität eigen: Da gab (gibt) es Straßen, die nirgendwohin führten oder unversehens von ihrer eigentlichen Richtung abbogen, Bahnhöfe, von denen kein Zug fuhr, Fabriken, in denen nichts fabriziert, Lagerhäuser, in denen nichts gelagert wurde, ein ganzes Stadtareal entlang der inneren Mauer, das städtebaulich eine Brache blieb, weil man es weder bebauen noch nicht bebauen und jedenfalls nicht richtig bebauen konnte, Gebäude allerenden, die ihrem eigentlichen Zweck entfremdet waren, es gab sogar einen Reichstag, in dem kein Reich mehr tagte, der aber trotzdem geisterhaft intakt dastand und so tat als ob. Dazu kam die andere große Absurdität, die keine andere Stadt je erdulden mußte: daß der eine Teil Berlins rigoros von seinem Hinterland, der andere von der ganzen Welt jenseits seines unmittelbaren Hinterlandes abgeschnitten war.

Wolf Jobst Siedler wird nicht müde zu predigen, daß Architektur sekundär ist. Sie müsse gar nicht die allerfeinste sein, um einer Stadt zu Leben und zu Stil zu verhelfen; ein starker Formenkanon verkrafte auch Minderes. Wichtiger als die Architektur sei das stadtplanerische Konzept. Nicht auf den einzelnen Entwurf komme es an, und sei er noch so preisgekrönt, sondern auf den Gedanken, der die Einzelelemente einer Stadt sinnvoll aufeinander bezieht.

Wie aber kann man auch nur nachzudenken beginnen, solange niemand weiß, welche Funktionen eine Stadt in sich vereinen soll? Es läßt sich beispielsweise endlos diskutieren, was mit dem „Palast der Republik“ werden könnte: Asbestsanierung. Umbau. Abriß. Wiederaufbau des Hohenzollernschlosses. Kaufhaus. Parkplatz. Stehenlassen, tot wie er ist, als Andenken an die DDR sozusagen ... Die ganze Diskussion aber muß ohne Ergebnis bleiben, solange niemand irgendeine Vorstellung hat, welche Funktion ein Gebäude an dieser Stelle, die städtebaulich ja irgendwie das Zentrum Berlins und Deutschlands ist, zu erfüllen hätte. Heute muß und könnte endlich etwas geschehen, Berlins Verwüstungen und Absurditäten abzuhelfen. Aber in den Innenbezirken der Stadt läßt sich praktisch kein Laternenpfahl versetzen, ohne daß die Hauptstadtfrage geklärt ist, und zwar endgültig.

Eine falsche Hoffnung würde die Absurdität ins Unabsehbare verlängern. Berlin würde in seinem Zentrum Gebäude und Bauplätze zuhauf für einen Tag X freihalten, der ausbleibt. Immer noch könnte es nicht entwickeln, was jede Stadt zum Leben braucht: eine echte Mitte. Statt einer Mitte hätte es einen tauben Kern, eine ghost town, lauter endgültig provisorisch belegte Gehäuse. Fataler noch als eine eindeutige Entscheidung gegen Berlin wäre darum dessen Selbstvertröstung auf irgendeinen Sanktnimmerleinstag.

Angenommen also, die Entscheidung ist gefallen, der große Wortbruch wird exekutiert, die Regierung bleibt in Bonn. Was passiert?

Der ganzen, sicher tief ergriffenen Welt würde demonstriert, daß Deutschland anders ist, als sie dachte, nämlich klitzeklein und absolut harmlos, beste Provinz. Westdeutschland würde demonstriert, daß etwaige Befürchtungen, die historischen Umwälzungen könnten praktische Veränderungen mit sich bringen, grundlos waren. Und Ostdeutschland würde demonstriert, daß die politischen Entscheidungsträger ihm möglichst fern zu bleiben gedenken. Was es schon heute ahnt, daß es auf lange, lange Zeit Deutschlands Mezzogiorno sein wird, das arme, ob seiner ständigen Quengelei lästige Morgenland irgendwo weit weg im Osten, wird ihm schlagartig zur Gewißheit werden. Die konservativen neuen Bundesländer, die Bayern zum Vorbild erkoren haben, werden wenigstens brav Ruhe halten. Das notorisch freche Berlin wird es nicht und so doppelt lästig fallen.

Aber sonst passierte zunächst natürlich gar nichts weiter, so wie erst einmal auch nichts passierte, wenn die Entscheidung für Berlin fiele. Zehn Jahre brauchte die Stadt bestimmt, ihre Infra- wie ihre Suprastruktur soweit herzurichten, daß sie Parlament und Regierung aufnehmen könnte. In dieser Zeit fänden nur Weichenstellungen statt. Ein steter Strom von Beamten, Lobbyisten, Diplomaten, Journalisten, viele unauffällige Abgesandte vieler unbekannter Bundesverbände für alles und jedes sondierten das Terrain und schafften sich Quartier. Dieser Zustrom würde etwas in Gang setzen. Vielfache, sonst nicht konforme Interessen träfen sich in einem Punkt: daß Berlin der Ort sein solle, an dem man künftig arbeiten und leben will. Vieles folgte daraus fast von allein. Mit den echten, nicht nur wie in der Vergangenheit inszenierten Funktionen erhielte Berlin wieder Lebenskraft.

Daraus ergibt sich aber auch, was passiert, wenn die Entscheidung gegen Berlin fällt. Jener interessierte Zustrom bliebe aus. Die schon kamen und die Immobilienpreise in die Höhe trieben, würden teilweise wieder das Weite suchen, weil es dort vorläufig nichts Wichtiges zu tun gibt und auf der Flucht vor Lebensbedingungen, die ungemütlicher sind als in Westdeutschland. Denn wenn Berlin auch in Zukunft künstlich ernährt werden muß und wenn das weiter so unwillig und unzureichend geschieht wie heute, wird sich selbst das Juwel des Kapitalismus, West-Berlin, seiner Umgebung viel stärker angleichen als diese ihm. Es gibt schon ein Wort dafür. Es lautet „Verostung“.

Wenn eine Gebietskörperschaft so etwas wie Stolz hätte, müßte Berlin nach einer Entscheidung zu seinen Ungunsten auch auf den Hauptstadttitel dankend verzichten und sich auf sich selbst und sein Umland konzentrieren, die Mark Brandenburg, aus der es einmal hervorging. Falls dann wieder einmal ein Verfassungsorgan den Wunsch verspüren sollte, zu national dekorativen Zwecken eine Sitzung in Berlin abzuhalten, könnte es sich dort ja das ICC mieten. Aber Stolz kann ein Ort nicht haben, und Berlin kann sich auch keinerlei Stolz leisten.

Als es Hauptstadt Preußens, des Deutschen Reiches und dann der DDR war, wurden in Berlin über Jahrhunderte hin kulturelle Einrichtungen angesiedelt, die sich Berlin als gewöhnliche Stadt nie hätte leisten können. Und da das isolierte West-Berlin politisch und wirtschaftlich keine Rolle spielen konnte, wurde um so mehr getan, ihm wenigstens einen aktualisierten Abglanz seiner einstigen kulturellen Größe zu erhalten. Kultureller Weltrang – das ist einmal etwas, dessen Besitz Berlin nicht in hechelndem Größenwahn behauptet, sondern den es mit seinen Theatern, seinen Opern, seinen Orchestern, seinen Museen, seinen Universitäten heute tatsächlich besitzt. Er stünde in Frage, wenn es nicht wirkliche Hauptstadt wird, und das aus einem einfachen Grund: Das wirtschaftlich schwache, überalterte, in Teilen arg heruntergekommene Land Berlin mit seinen vielen Teilungsnarben kann all die in seinen Mauern versammelte Pracht, die ihm nun anvertraut wird, selber nie und nimmer bezahlen. Und das ist auch überhaupt kein neuer Zustand. Man vergleiche nur das Heute mit einem früheren Jahr, sagen wir mit 1929.

1929, das Ende der Goldenen Zwanziger, weil es eins der letzten guten Jahre war, ein letztes Aufleuchten vor der Verfinsterung. Noch schien es möglich, daß Deutschland doch ein normales zivilisiertes Land würde und Berlin seine spannungsvolle, lebendige, offene, zivilisierte Hauptstadt. „Es war, als ob alle hohen künstlerischen Kräfte noch einmal aufstrahlten und dem letzten festlichen Symposium der Geister einen vielfarbigen hohen Glanz gaben, bevor die Nacht der Barbarei hereinbrach“, schrieb später der Dirigent Bruno Walter.

1929 erzielte die NSDAP bei den Stadtverordnetenwahlen erst 5,2 Prozent. Es war das Jahr, als bei Ullstein in der Kochstraße Remarques Im Westen nichts Neues erschien und in wenigen Wochen in 300 000 Exemplaren verkauft wurde, bei Sam Fischer in der Mohrenstraße Döblins Berlin Alexanderplatz, bei Ernst Rowohlt in der Potsdamer Straße Ringelnatz’ Kuttel Daddeldu; als Thomas Mann, einer der nicht gar so vielen deutschen Schriftsteller, die nichts mit Berlin zu tun hatten, den Nobelpreis erhielt, aber in Berlin eine Volksausgabe der Buddenbrooks zu 2,85 RM herauskam, die mit 700 000 verkauften Exemplaren der Bestseller des Jahres wurde. Literarische Cafés, literarisch-politische Zeitschriften jede Menge; Werner Finck eröffnete die "Katakombe". Seine Akne konnte man von Dr. Gottfried Benn in Schöneberg behandeln lassen. An der Charité operierte Ferdinand Sauerbruch, an der Friedrich-Wilhelms-Universität forschten und lehrten Fritz Haber, Friedrich Meinecke, Max Planck, Erwin Schrödinger, Eduard Spranger, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, und Albert Einstein veröffentlichte Eine neue Feld-Theorie.

1929 wurde im Tautzienpalast der erste deutsche Tonfilm uraufgeführt, der sinnigerweise Das letzte Lied hieß, und draußen in Babelsberg bei der Ufa drehte der aus Amerika herbeigereiste Josef von Sternberg mit Marlene Dietrich und Emil Jannings den Blauen Engel. Präsident der Akademie der Künste am Pariser Platz war Max Liebermann. In der Philharmonie in der Bernburger Straße gleich hinterm Potsdamer Bahnhof (wo 1929 auch ein zwölfjähriges Wunderkind namens Yehudi Menuhin auftrat) war Wilhelm Furtwängler der musikalische Leiter, in der Linden-Oper Erich Kleiber, in der Kroll-Oper gegenüber vom Reichstag Otto Klemperer (der dort 1929 Hindemiths Neues vom Tage uraufführte), in der Städtischen Oper in der Bismarckstraße erst Bruno Walter und dann Fritz Busch. Im Theater am Schiffbauerdamm erlebte Brecht/Weills Dreigroschenoper ihre zweihundertfünfzigste Vorstellung. Ein paar Straßen weiter, in Max Reinhardts Deutschem Theater, faszinierte dieser mit einer neuen Fledermaus, während ein paar Schritt in die andere Richtung, im Metropoltheater in der Behrenstraße, Franz Léhars Land des Lächelns Weltpremiere hatte. Ganz in der Nähe, am Spreebogen, wo sich heute die Öde der geschleiften Grenzbefestigungsanlagen der DDR dehnt, lag das Lessing-Theater, wo es die politisch-theatralische Sensation des Jahres zu sehen gab, das Abtreibungsstück Cyankali von Friedrich Wolf (der von der DDR ererbt und in der Alt-Bundesrepublik vergessen wurde). Am Nollendorfplatz machte Erwin Piscator avantgardistisch-kommunistisches Theater. Unter Erich Engels Regie trällerte Fritzi Massary im heutigen Hebbel-Theater in der damaligen Königgrätzer Straße ... Und so immer fort.

Nicht, daß es den Künsten rosig ging. Die Subventionsempfänger mußten feilschen und erhielten selten genug. Viele Künstler waren arbeitslos oder in Not, und wenn Tilla Durieux an einem Abend in zwei Theatern auftrat, die am Rande des Bankrotts balancierten, so war das kein Zeichen überbordender Vitalität. Trotzdem war da natürlich ein atemraubender Reichtum versammelt.

Es gab 1929 in Berlin 3 Opernhäuser (4 mit der Volksoper), 48 Theater, 360 Kinos, 6 große Konzertsäle, 25 Museen, Schlösser, Gärten, 79 Varietés, 154 Volksbüchereien. (1991 lauten entsprechende Zahlen für Berlin-West und -Ost: 1 plus 2 Opern, 1 plus 1 Musical- oder Operettenbühnen, 48 plus 13 Theater, 96 plus 20 Kinos, 5 plus 2 ausschließliche Konzertsäle, 51 plus 17 Museen, Schlösser, Gärten, Gedenkstätten, 139 plus 163 öffentliche Bibliotheken, 16 plus 6 Kabaretts.)

Und wie wurde das 1929 alles finanziert? Zu einem großen Teil privat. Heute, da keine Kiezkneipe mehr die Bilder eines Malers von nebenan aufhängen mag, ohne Gelder aus dem staatlichen Topf für dezentrale Kulturförderung zu beantragen, mutet es geradezu unglaublich an, wie wenig der Staat sich damals, in jenem von Alfred Kerr so genannten „perikleischen Zeitalter“, die Künste kosten ließ. Selbst die Philharmoniker waren bis 1932 eine private Gesellschaft. Die meisten Theater, wie heute die Kinos, befanden sich in der Hand einiger Theatermagnaten. Wer weiß noch, daß der große Max Reinhardt nicht nur ein großer Regisseur und Intendant war, sondern der große Eigentümer von schließlich fünf Berliner Theatern, darunter seinem Flaggschiff, dem keineswegs staatlichen Deutschen Theater in der Schumannstraße, so genannt nach dem dort gelegenen Zirkus Schumann, den Reinhardt zu seinem Großen Schauspielhaus umbauen ließ und dessen heutiger Nachfolger der Friedrichstadtpalast ist? Es gab 1929 überhaupt nur fünf staatlich subventionierte Bühnen in Berlin: Schinkels Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (das wiederaufgebaut heute Konzertsaal ist), das Schillertheater und die drei Opern. Vier davon finanzierte das Land Preußen. Die Städtische Oper in Charlottenburg war die einzige Bühne, für die zähneknirschend das Land Berlin selbst aufkam. Heute gibt es in Ganz-Berlin 16 vom Staat finanzierte oder voll subventionierte Bühnen und viele irgendwie bezuschußte mehr, auch eine rege Off-Szene.

Und dies sind als Unterfutter die Zahlen. 1929 gab Berlin für kulturelle Zwecke 4,9 Millionen Reichsmark aus, 0,8 Prozent seines Gesamthaushalts, während Preußen seinen in Berlin ansässigen Kultureinrichtungen 15,6 Millionen bereitstellte. Die Reichsregierung tat kulturell für die Reichshauptstadt gar nichts; in ihrem Etat tauchen nur zwei Zensurbehörden auf, die Filmprüfstelle und die für „Schund- und Schmutzschriften“. Berlin selber finanzierte die in seinen Mauern tätigen Kultureinrichtungen, soweit sie überhaupt staatliche Zuwendungen erhielten, 1929 also nur zu knapp einem Viertel. Die übrigen drei Viertel kamen von Preußen. Bei diesem Verhältnis dürfte es, auf einem anderen Niveau und unter geänderten Umständen, ungefähr geblieben sein: Ganz aus eigenen Kräften könnte sich Berlin heute kaum mehr als ein Viertel seiner Kultur leisten.

Im vorigen Jahr wendete das Land West-Berlin für sie 2 Prozent seines Gesamthaushalts auf, genausoviel wie das ihm als Stadtstaat am ehesten vergleichbare Hamburg. Zur Verfügung standen 512 Millionen Mark. In diesem Jahre braucht es diese, und dazu mindestens 460 Millionen für die Weiterführung der im ehemaligen Ost-Berlin liegenden Einrichtungen, die im Augenblick buchstäblich von der Hand in den Mund leben müssen, 970 Millionen alles in allem. Dem Kultursenator fehlen daran noch 260, und zwar darum, weil der Bund zu den 12,3 Milliarden, die das Land Berlin für den hinzugekommenen Ostteil benötigt, nicht die Hälfte zuschießt wie zu dem 27-Milliarden-Haushalt des Westteils, sondern sich bisher nur mit einer Milliarde daran beteiligt. Ein Fehlbetrag von 260 Millionen: „Die Summe ist so groß, daß ich sie einfach bekommen muß“, pflegt Berlins Kultursenator Ulrich Roloff-Momin zu sagen; wie und woher, das weiß er nicht. Ein solcher Betrag wäre nicht mehr durch kleinere Einsparungen hier und dort zu erübrigen, durch „die Schließung des achtzehnten Off-Theaters in einem Außenbezirk“. Bleibt die große Summe aus, so wird Berlin noch in diesem Jahr drei oder vier seiner kostspieligsten Häuser schließen müssen.[3]

„Und das stelle man sich vor“, sagt zu dieser Aussicht Ivan Nagel, der dem Senat unlängst ein Gutachten zur Theaterlandschaft Berlin vorgelegt hat: „Die Staatsoper weg, das Schillertheater weg, die Schaubühne weg. Oder: das Deutsche Theater weg, die Deutsche Oper weg, die Komische Oper weg. Diese dreifache Kulturschande stelle man sich vor.“

Jenes Gutachten setzt voraus, daß mehr oder weniger alles erhalten werden kann, wenn auch zum Teil im Innern verändert. „Sonst brauchte man kein Gutachten, sondern nur eine Abbruchfirma.“ Erhalten werden aber könne es nur, falls der Bund ab sofort eine volle Hälfte der Kosten übernimmt. Wenn eine kontinuierliche Arbeit möglich sein soll (bei der Oper beträgt heutzutage die kürzeste Planungsfrist drei Jahre), dürfe sich Berlin das Geld auch nicht jedes Jahr von neuem zusammenbetteln müssen. Vonnöten wäre eine stabile dauerhafte Regelung.

Und diese müßte im übrigen sehr schnell geschaffen werden. Denn was in der Interimszeit zerschlagen wird, wäre später mit keinem Geld der Welt mehr wiederzubeleben.

Zwei Modelle sind denkbar.

Das eine ist ein Hauptstadtvertrag, wie ihn die Stadt Bonn mit dem Bund geschlossen hat. Er gestattet dem Bund, der sich ja offiziell aus allen Kulturaufgaben herauszuhalten hat, sich zur Hälfte an ihren kulturellen Institutionen zu beteiligen.

Das andere wäre die Gründung einer Stiftung, an der sich der Bund, die Bundesländer und wer auch immer beteiligen könnte, um im Maße seiner Beteiligung in ihr mitzubestimmen. Ihr Vorbild wäre die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die dem Land Berlin seit langem die Sorge um die meisten und kostspieligsten seiner Kunstmuseen, um die ehemalige Preußische Staatsbibliothek, welche es dank der Teilung doppelt gibt und die nun wieder zusammenwachsen soll, sowie um das Preußische Staatsarchiv abnimmt.

Zusammen wird diese Berlin zuteil gewordene Hinterlassenschaft Preußens in diesem Jahr 283 Millionen Mark an Zuschüssen verschlingen; Berlin selbst trägt mit einem Zehntel dazu mehr bei als andere Bundesländer. Endgültig gesichert aber ist auch dieser Teil noch nicht. Mit der deutschen Vereinigung ist der bisherige Vertrag, auf dem die Stiftung Preußischer Kulturbesitz beruht, hinfällig geworden. Er muß neu verhandelt werden. Bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag haben sich die süddeutschen Bundesländer unwillig gezeigt, ihn in der jetzigen Form fortzusetzen. Es gibt da so eine Stimmung: „Ach Berlin! Das mußte lange genug durchgefüttert werden, und es bleibt unersättlich. Es will das Parlament und das Kanzleramt und nicht weniger als drei Opern! Wir bezahlen sie ihm jedenfalls nicht.“

Das ist der Punkt. In dieser Stimmung verquicken sich zwei Abneigungen, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben müßten: die gegen die Rückverlegung des Regierungssitzes mit der gegen Berlins hervorgehobene Stellung überhaupt. Wenn sich diese Stimmung durchsetzt, ist es um Berlins Kultur geschehen, und den Schaden hat das ganze Land. Darum bleibt Berlin gar nichts anderes übrig, als jeden Stolz zu vergessen und die Hauptstadtkarte bis zum letzten ausreizen. Eine Hauptstadt, noch dazu eine betrogene, wird man doch nicht vor die Hunde gehen lassen? Eine Stadt, die unter der Teilung am meisten gelitten hat, wird man doch nicht zum Opfer der Einheit machen?

Wir werden sehr aufzupassen haben, was man tun wird.

Aber die drei Opern – braucht Berlin die wirklich? Natürlich gibt es keine feste Quote, die besagte: eine Stadt der Größe soundso muß soundsoviele Opern haben, wie sie soundsoviele Apotheken oder Hydranten braucht. Insofern rechtfertigte sich gar keine bestimmte Zahl von allein. Ein manchmal gehörtes Argument für die drei Opern lautet: Sie seien kein Ergebnis unnatürlicher und nun erledigter Verhältnisse, ebenso viele habe es auch schon in den Goldenen Zwanzigern gegeben. Ein anderes: Berlin sei eigentlich nicht nur eine Großstadt, sondern eine Koalition von zwanzig Großstädten und habe damit wie etwa das Ruhrgebiet mehrere Opern verdient. Ein drittes: Bisher seien die drei Opern immer voll gewesen, ausgelastet zu 81 (Deutsche Oper) bis 91 Prozent (Staatsoper), und dabei werde es auch bleiben. Ein viertes: Konkurrenz hebe die Qualität. Die Hauptsache verfehlen alle diese Argumente. Wer nähme sich heraus, Sankt Aposteln abzureißen, weil es in Köln ja genug Kirchen gibt? In abstracto läßt sich über die Zahl der Bühnen, die eine Stadt nötig hat, allemal reden; nicht aber konkret über die Schließung dieser Deutschen Oper, dieser Staatsoper, dieser Komischen Oper, die die deutsche Geschichte, ob mit Vernunft oder ohne, dort nun einmal hat wachsen lassen.

Hinter manchen Überlegungen, die heute zu Ungunsten Berlins angestellt werden, steht offen oder unausgesprochen das Gefühl: Berlin habe es gar nicht verdient, wieder Deutschlands richtige Hauptstadt zu sein. Berlin: für viele ist das eine dreiste Kodderschnauze, die preußische Pickelhaube, Kaiser Wilhelm mit seinem Zwirbelbart und seinen Kanonenbooten und dann gar Hitler und sein fetter Reichsmarschall.

Es ist wahr, viel Furchtbares ist von Berlin ausgegangen. Die Stadt hat mit ihrer zweifachen Verwüstung, mit der Verlängerung der Hungerzeit bis über die Blockade hinaus, mit ihrer Ummauerung und den Alltagsabsurditäten in deren Gefolge dafür aber auch schwerer gebüßt als andere deutsche Städte. Berlin besitzt zudem eine zweite, bessere Tradition. Die Stadt Humboldts und Schinkels war ein Ort der Aufklärung und Duldsamkeit, der über ganz Europa hinstrahlte. Ihre Weltoffenheit war (und ist) mustergültig. Auch in diesem Jahrhundert war (und ist) sie noch einmal ein multikultureller Schmelztiegel sondergleichen. Der Welt ist sie heute, wenn überhaupt, auch gar nicht in erster Linie als Ort der Gestapo und der Stasi im Bewußtsein, sondern als die Stadt, die sich, obwohl zerbombt und hungernd, selbst durch eine Blockade nicht kleinkriegen ließ. Kennedy hat damals nicht „Ick bin ain Bahner“ gerufen.

Ja, das ganze große deutsche Volk hat einmal, noch in freier und geheimer Wahl, für seinen Rückfall in die Barbarei, für seinen Ausschluß aus der zivilisierten Menschheit gestimmt, und das in einem Augenblick, als er nicht mehr die bloße Befürchtung einiger linker und liberaler Miesmacher war, sondern bereits vor aller Augen begonnen hatte. Fast alle Deutschen stimmten bei den Reichstagswahlen im November 1933 für die NSDAP, 91,2 Prozent, in Ostpreußen gar 97,1, auch ein Traumergebnis. Mit seinen 85,1 Prozent steht das Land Berlin nicht viel rühmlicher da. Aber immerhin gab es nur noch in einem Land, in Hamburg, mehr Menschen, die nicht für die Nazis stimmten. Hitler mochte die Stadt nicht, und er hatte Grund dafür. Die „Hauptstadt der Bewegung“ war München, nicht Berlin.

Viel steht heute auf dem Spiel. Für Berlin nahezu alles. Für ganz Deutschland die Frage, ob es sich überhaupt noch einmal als ein normales Land mit einer normalen Hauptstadt denken kann und will, in der es seiner Geschichte, der guten wie der unguten, nicht aus dem Wege geht und gehen kann.


 


[1] In einem Internetverzeichnis, das weltweit nicht Städte, sondern Ballungsgebiete listet, stand das Ballungsgebiet Berlin (also einschließlich Potsdam, Oranienburg, Strausberg, Falkensee usw.) Ende 2006 auf Platz 74, zwischen Sydney und Algiers. In Europa stand es, mit 4,2 Millionen Einwohnern, auf Platz 6, nach Moskau, London, Paris, Madrid und St. Petersburg. Die Gesamtbevölkerung des Bundeslands Berlin hat entgegen den Erwartungen von 1991 nur minimal zugenommen, von 3,26 auf 3,39 Millionen. (www.citypopulation.de/World.html)

[2] Richard von Weizsäcker.

[3] Ein Senatsbeschluß zwang Roloff-Momin im Sommer 1993, drei Westberliner Theater zu schließen: das Schillertheater, seine Werkstattbühne sowie das Schloßparktheater in Steglitz.


 

›Home