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DIE ZEIT/Wissen, Nr. 8, 12. Februar 1998

Titel: "Eineiige Zwillinge sollen Zufall bleiben. Die Natur klont aus Versehen. Lässt sich so ein Klonverbot begründen? Eine Antwort auf Jürgen Habermas"

Manuskriptfassung

© 1998 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 Bioethische Nachtgedanken

Von Dieter E. Zimmer

 

ES SIND in der Tat schwindelerregende Möglichkeiten, die sich für die Menschheit mit dem rapiden Wissenszuwachs auf molekularbiologischem und reproduktionsmedizinischen Gebiet auftun. Krankheiten dort aufhalten, wo viele ihre Wurzel haben, im genetischen Code, nicht erst auf dem Weg ihrer Manifestation. Erbkrankheiten von vornherein ausmerzen. Das Geschlecht der Ungeborenen bestimmen. Menschen clonen. Das biologische Schicksal eines jeden noch vor der Geburt voraussagen. Den Prozeß von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt "unter Kontrolle" bringen. Das Leben biblisch verlängern; vielleicht Unsterblichkeit erringen.

     "Wissenszuwachs" impliziert "Machbarkeitszuwachs": das eigentlich fällige Wort 'Fortschritt', undifferenziert auf alle diese Möglichkeiten angewandt, bleibt einem im Hals stecken. Daß manche triumphieren und andere bis ins Mark erschrecken und viele ratlos zwischen Triumph und Schreck schwanken, hat seine Richtigkeit. Der Alarm ist kein falscher. Die Menschheit muß sich, und zwar bald, einfallen lassen, was sie mit diesem Wissenszuwachs anfangen will: ob alles, was machbar sein wird, wirklich gemacht werden darf; wo die Demarkationslinie gezogen werden soll, die das Zulässige vom Unzulässigen scheidet. Der Wissenszuwachs selbst ist unaufhaltsam; Denk- und Forschungsverbote wären nur dazu gut, gebrochen zu werden. Aufhaltsam aber wären bestimmte Anwendungen des Wissens; they better be. Bei der Definition der Demarkationslinie geht es um schwierige, um letzte Fragen. Da sind die Euphorien der Naturbezwingung und Grenzüberschreitung nicht dienlich; pauschale Panik, Ermahnungen, nicht Gott spielen zu wollen, Drohungen mit dem mythischen Frankenstein-Monster aber ebenso wenig.

     In einem bemerkenswerten kleinen Aufsatz hat sich Jürgen Habermas (in der Süddeutschen Zeitung[1]) kürzlich zum Grenzproblem des Clonens von Menschen geäußert. Er begründet dessen Unzulässigkeit auf originelle Weise. Der Clon (also die vollständige genetische Kopie eines anderen Menschen), sagt Habermas, sei eine Art Sklave, weil er nämlich einen "Teil der Verantwortung, die er sonst selbst tragen müßte, auf andere Personen abschieben kann". Eine andere Person habe vor seiner Geburt ein Urteil über ihn verhängt, indem sie ihm einen unwiderruflichen genetischen Code zudiktiert habe. Der Clon kann jemand anders für sein Sosein haftbar machen. Habermas' Argument ist stark. Es hat nur zwei Schwächen.

Die eine: Das moralische Problem, so scheint mir, würde weniger für den Clon bestehen als für den, der ihn erzeugen läßt. Wer er genetisch werden will, konnte sich noch nie ein Mensch aussuchen. Seine Eltern haben ihm immer das Genom zudiktiert und seine Freiheit entsprechend eingeschränkt. Kinder konnten ihre Eltern immer für ihr Sosein haftbar machen. Die Anklage unglücklicher Kinder "O hättet ihr mich doch nie geboren" dürfte so alt sein wie die Menschheit. Die Fortpflanzung enthielt nur immer ein die elterliche Verantwortung entlastendes Element von Zufall: Zwar teilen die Eltern ihren Kindern die eigenen Gene zu, jeder Elternteil die Hälfte – aber in welcher Kombination, das bestimmt die Lotterie. Derjenige aber, der einen Clon von sich oder einem anderen Menschen erzeugen läßt, ein künstliches identisches Geschwister, maßt sich an, diesen kombinatorischen Zufall auszuschließen. Er sagt de facto: Du sollst genauso sein wie ich (oder – das wäre wohl der häufigere Fall – wie unser liebes Kind, deine tote Schwester, dein toter Bruder). Natürlich wäre dieser andere am Ende durchaus nicht genau wie sein Original; die identischen Erbanlagen würden in einer anderen Lebensgeschichte auf andere Weise aktualisiert. Aber wer sich selbst für so ideal hält, daß er einem anderen genau die eigenen Erbanlagen zumutet, muß größenwahnsinnig sein und damit für jede Fortpflanzung ungeeignet. Die Verantwortung der Reproduktion läßt sich nur auf sich nehmen, weil man durch die Zufälle der Kombination eben nicht genau vorhersehen kann, wie das Kind sein wird.

     Die andere Schwäche: Weitergedacht, würde das Argument nicht nur das Clonen ausschließen, sondern letztlich jeden schwerwiegenden, irreversiblen Eingriff in die körperliche Befindlichkeit eines Unmündigen. Eltern müßten ihren kranken Kindern wirksame Therapien vorenthalten, damit diese die Freiheit haben, ihr naturgegebenes Schicksal auf sich zu nehmen oder sich später selbst dagegen zu wehren. Alles andere wäre ja Fremdbestimmung, eine Form von Sklaverei. Aber selbst wenn alle Sozialethiker der Welt zu diesem Schluß kämen: die Menschen würden sich hoffentlich nicht daran kehren. Ein solcher Fatalismus war einfach noch nie ihre Art. Keine Bioethik sollte Eltern verbieten, mit allen rationalen Mitteln und so früh wie möglich gegen die Krankheiten ihrer Kinder zu kämpfen. Täte sie es, könnte sie nur scheitern.

     Ließe sich die notwendige Demarkationslinie zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem nicht stabiler ziehen, wenn sich das Argument nicht auf sozialethische Kategorien wie Freiheit und Verantwortung stützte, sondern auf ein rationales Verständnis der Natur, der wir angehören? Wenn die Bioethik der Zukunft sich also an der Biologie orientierte?

     "Die Natur" ist ein ungeheuerlich komplexes System des erzwungenen Interessenausgleichs, des Miteinanders im Gegeneinander. Jedes ihrer Wesen muß, um leben zu können, Ziele verfolgen, die den Zielen anderer Wesen zuwiderlaufen. Gegenseitig ermöglichen sie sich nur darum das Leben, weil die Natur einige beschränkende harte Tatsachen über sie verhängt hat, die ihrer Disposition entzogen, die "Schicksal", die – so das heutige Modewort – "kontingent" sind. Dank dieser Einschränkungen seines Handlungsspielraums hat die Evolution den Menschen hervorgebracht; nichts deutet darauf hin, daß er ohne sie als Gattung weiterleben könnte. Bliebe nicht manches kontingentes Schicksal, so würde den Menschen eine Verantwortung auferlegt, die sie schlechterdings nicht tragen könnten, weil ihr Einzelinteresse nie und nimmer mit dem Gesamtinteresse auszusöhnen wäre. Evolution ist auch das: leidvoll gesammelte Weisheit.

     Was bedeutet das für eine an der Biologie orientierte Bioethik? Zum Beispiel dies.

    Die geschlechtliche Reproduktion beruht im Falle des Menschen darauf, daß sich beide Geschlechter in der Zahl etwa die Waage halten. Wenn die Eltern das Geschlecht ihrer Kinder vorausbestimmen könnten (medizinisch wird es sicher demnächst möglich sein), würde das in den meisten Gesellschaften zu einem alsbaldigen Ungleichgewicht führen, mit katastrophalen sozialen und biologischen Folgen, die sich jeder leicht ausmalen kann. Gesellschaften, in denen neugeborene Mädchen routinemäßig getötet werden, geben einen Vorgeschmack.

     Jeder muß gegen alle Widrigkeiten leben wollen, aber am Ende doch sterben. Bisher haben die Fortschritte der Medizin und Hygiene zwar die durchschnittliche Lebenserwartung dramatisch erhöht, nicht aber die Höchstlebensdauer (maximal 120 Jahre). Eines Tages wird man sie vielleicht verlängern können, wenn auch nicht mit den Antioxydantien von gestern oder der Telomerase von heute. Das Ergebnis würde nicht nur Rentenversicherungssysteme in Verlegenheit bringen. Die Nachricht, es sei nun endlich gefunden, was die Menschen immer am tiefsten herbeigesehnt haben, das Unsterblichkeitselixier, wäre die realste Weltuntergangsdrohung aller Zeiten. Schon bald müßten sich die neueren Erdenbürger der älteren mit Gewalt entledigen, sie vielleicht, wie in einer Erzählung von Günter Kunert, mit Raketen ins All schießen.

     Dagegen müssen sich die Menschen nicht verbieten, auf jede Weise, auch mit den Mitteln, die ihnen die Molekularbiologie bereitstellen wird, für sich und ihre Nächsten individuelle Freiheit von Krankheit zu suchen. Krankheit gehört nicht zu den Leben ermöglichenden Beschränkungen, die die Natur den Menschen auferlegt hat. Weder der Einzelne noch die Gemeinschaft noch der Verbund der Natur braucht Krankheit (abgesehen davon, daß eine Grippeepidemie eine Hochzeit für ihre Erreger ist). Vielmehr hat die Natur den Menschen und nicht nur ihn mit den raffiniertesten Verteidigungsanlagen gegen Erkrankung ausgestattet, mit Wundheilungskräften, einem gerinnenden Blut, einem erinnerungsfähigen Immunsystem, einer defensiven Haut, einem hochselektiv durchlässigen Darm, einer Blut-Hirn-Schranke und nicht zuletzt einer lernfähigen Vorsicht. Krankheit liegt offenbar nicht in ihrer Absicht, sie passiert, trotz allem. Die Medizin kommt der Natur nur immer effizienter zur Hilfe (und steht dabei erst am Anfang).

     Und das Clonen von Menschen? Es ist in seinem Fall das Prinzip der Natur, daß jeder neue Mensch genetisch ein Unikat ist, eine Kombination der elterlichen Gene, die es so noch nie gegeben hat und nie wieder geben wird. Persönlich hat er nichts davon; auch als niemandes Duplikat hat er sich sein Genom nicht ausgesucht. Aber als Gattungswesen konnte sich der Mensch nur dank seiner Variabilität zu dem Anpassungsgenie entwickeln, das er geworden ist: Mit jedem neuen Menschen hat immer eine einmalige Genkombination eine Chance erhalten. Manchmal unterläuft der Natur bei den ersten Teilungen des befruchteten Eies ein Fehler: Dann entstehen eineiige, genetisch identische Zwillinge, mithin Clones. Aber daß deren Rate, im Gegensatz zur Rate der zweieiigen Zwillinge, auf der ganzen Welt gleich und gleich niedrig ist (0,35 Prozent), zeigt, daß es ihr ernst ist mit dem Clonverbot; mehr scheint sie nicht zu ertragen. Wenn die Menschen begönnen, sich zu clonen, verstießen sie gegen eins der Prinzipien, denen sie ihre Existenz verdanken. Darum dürfen sie es sich nicht erlauben.


[1] "Sklavenherrschaft der Gene. Moralische Grenzen des Fortschritts" – Süddeutsche Zeitung, 17./18.1.1998

 

 

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