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Wie es zu diesen Fotos kam

Als ich 1951 von einem Schüleraustauschjahr in den Vereinigten Staaten nach Berlin zurückkehrte, hätte ich der Gastfamilie (Margery Blair und Lawrence B. Perkins in Evanston, Illinois), die den abgerissenen und naiven Knaben, der ihnen da durch Zufall ins Haus geschneit war, ein ganzes Jahr lang mit einer so klugen wie unsentimentalen Herzlichkeit aufgenommen hatten, gerne irgendeinen sichtbaren Dank abgestattet. Am liebsten hätte ich ihnen einen großen Bildband geschickt, der ihnen vorgeführt hätte, wie es in meiner Heimatstadt derzeit aussah; vielleicht, dass ihnen das nachträglich auch einige meiner Sonderbarkeiten erklären würde. Leider aber gab es damals schlechterdings keine Bildbände über das aktuelle Berlin. Otto Hagemanns Hauptstadt Berlin erschien erst 1956, Junges altes Berlin von Fritz Eschen und Georg Zivier erst 1958, der Band Berlin von Chargesheimer und Hans Scholz, der mir besonders geeignet vorgekommen wäre, erst 1959. Die beiden noch relevanteren Bände von Fritz Eschen (Berlin unterm Notdach und Berlin in den 1950er Jahren) und der von Ernst Hahn (Berlin um 1950) ließen bis 2013 auf sich warten. So verfiel ich auf die Idee, ihnen eigenhändig ein Album mit Fotos von "meinem" Berlin zu machen.

Es war eine reichlich verwegene Idee. Ich besaß kaum fotografische Erfahrung, keine Ausrüstung, nichts. Außerdem machte man damals so etwas einfach nicht: Man knipste Familienmitglieder oder im Urlaub Sehenswürdigkeiten, aber die eigene Stadt galt nicht als sehenswürdig, Berlin in seinem derzeitigen Zustand schon gar nicht. Wer würde kostbaren Film an sie verschwenden? Trotzdem machte ich mich im Frühjahr 1952 an die Arbeit. Ich fuhr mit dem Fahrrad und einer ausgedienten 'Argus', die Margery Perkins mir zum Abschied geschenkt hatte, kreuz und quer durch Berlin, vorwiegend durch Mitte, Tiergarten und den Südwesten, und verknipste sechs oder sieben Kleinbildfilme, etwa 260 Bilder. Gleichzeitig bastelte ich mir aus dem Objektiv einer unbrauchbaren Uraltkamera und Sperrholz einen Vergrößerungsapparat, kaufte eine Entwicklungsdose, einige Plastikschalen und die nötigen Chemikalien, trieb in Ostberlin einen billigen Restposten Vorkriegsfotopapier auf, verdunkelte die Rumpelkammer der elterlichen Wohnung und verschwand für ganze Tage in deren schwachem dunkelgrünem Licht aus einer ebenfalls selbstgebastelten Leuchte.

Larry Perkins, Architekt, 1952 oder 1953 vor dem Reichstag

Irgendwann aber blieb das ganze Vorhaben stecken. Ich hatte mich übernommen. Mein Fotopapier, chamois matt, kam mir immer scheußlicher vor. Ich hatte auch einfach nicht genug Filme; zig unerlässliche Motive waren noch ganz unfotografiert. Die Ausschussquote war hoch, zumal die 'Argus' lichtschwach war, ich keine Filter und keinen Belichtungsmesser besaß und Zoomobjektive, der Autofokus oder gar der Bildstabilisator noch gar nicht erfunden waren. Hundert Fotos hätte das geplante Album enthalten sollen, allenfalls siebzig geeignete hatte ich gemacht, und eigentlich hätte ich mindestens fünfhundert machen müssen. Denn mein größtes Handicap war, dass ich so sparsam fotografieren musste: mir jedes Motiv vorher überlegen und dann möglichst nur einmal zudrücken; nur den unentbehrlichsten Motiven konnte ich zwei oder drei Versuche gönnen. Und allmählich gingen mir nicht nur die spärlichen Ressourcen ganz aus, sondern auch die Zeit; die brauchte ich fürs Abitur. So ließ ich mein Berlin-Album weniger als halbfertig liegen und vergaß es schließlich. Als ich mich Jahrzehnte später wieder daran erinnerte, waren meine sämtlichen Chamois-Vergrößerungen und auch die meisten Negative verschollen.

Das immerhin bedauerte ich manchmal, vor allem als ich im Lauf meiner Recherchen für den Bildband Nabokovs Berlin (Berlin: Nicolai, 2001) merkte, dass das Berlin der Nachkriegszeit fotografisch alles andere als üppig dokumentiert ist. Und tatsächlich, als das Gros der alten Negative Anfang 2007 unerwartet wiederauftauchte, zwei der Filme am Rand der Zersetzung, erinnerte ich mich nicht nur an die damalige Frustration. Ich staunte, dass die wenigen erhaltenen Vergrößerungen von damals die Zeit besser überstanden hatten als die dazugehörigen Negative. Ich sah die alten Aufnahmen mit einer gewissen Rührung wieder, trotz ihrem technischen Dilettantismus; ihr improvisatorischer Charakter schien mir sogar gut zum Anfang der fünfziger Jahre zu passen, wie sie mir in Erinnerung waren. Auch hatten sie  ein inhaltliches Interesse gewonnen, das ich den Bildmotiven seinerzeit nicht entgegengebracht hatte. Dass das meiste, was auf ihnen abgebildet ist, seither ein für allemal von der Bildfläche verschwand, verleiht ihnen in meinen Augen heute einen gewissen historischen Charme, von dem ich mir 1952 nichts träumen ließ. Wer weiß, vielleicht wurde einiges von niemandem sonst abgelichtet. Deswegen unterbreite ich hier achtzig dieser Fotos der Öffentlichkeit.

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Dieter E. Zimmer

28. Januar 2007

 

Claudiusstrasse 6

D-10557 Berlin

 

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